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Britisches Parlament sagt mit deutlicher Mehrheit „No“ zum Brexit-Deal

Die Briten und Europa – eine unendliche Geschichte. Die Briten und Europa – eine unendliche Geschichte. © Pixabay

Die Kunst des Möglichen oder Katzenjammer

Das traditionsreiche „House of Commons“ hat parteiübergreifend mit großer Mehrheit, 433 zu 202 Stimmen, den ausgehandelten Deal von Theresa May mit der EU abgelehnt. Dies bahnte sich zwar schon vor der entscheidenden Debatte an, aber die Überraschung und Enttäuschung sowohl bei der EU in Brüssel als auch in Berlin ist groß. Bereits wieder hörbare deutsche Schuldzuweisungen an die Briten, auch im Ton, sind unangebracht und angesichts der kritischen Situation auch deplatziert. Die von Außenminister Heiko Maas nach der Ablehnung durch das Unterhaus geäußerte Formulierung „Die Zeit der Spielchen ist jetzt vorbei“ kam jedenfalls im Vereinigten Königreich nicht gut an. Gepokert bei den Austrittsverhandlungen haben nämlich alle, insbesondere auch die EU-Vertreter einschließlich der Bundeskanzlerin.

Wer sprach von Rosinenpickerei und provozierte damit?

In einem SPIEGEL-Interview hat David Davis die Verhandlungsstrategie der EU kritisiert. Davis muss es wissen, denn er war von 2016 bis 2018 auf britischer Seite der zuständige Minister für die Austrittsverhandlungen. „Europa war entschlossen, dafür zu sorgen, dass wir keinerlei Vorteile haben würden“, sagte er dem SPIEGEL. Namentlich erwähnte er besonders die Bundeskanzlerin. „Tatsächlich sagte Frau Merkel, wenn ich mich richtig erinnere, sinngemäß, dass Großbritannien auf keinen Fall vom Brexit profitieren dürfe.“ Insbesondere von deutscher Seite, unmittelbar nach dem britischen Referendum vom 23. Juni 2016 (da hatten die Briten noch nicht einmal den offiziellen Antrag für den EU-Austritt gestellt), wurde der Begriff Rosinenpickerei zum geflügelten Wort instrumentalisiert.

Wenn überhaupt, dann haben die „Spielchen“, auch mit kraftvollen Ansagen, alle betrieben. Auch EU-Kommissionspräsident Juncker und Bundeskanzlerin Merkel … Bis in die jüngste Zeit hinein ist dafür auch der Generalsekretär der EU-Kommission, der deutsche Provinzpolitiker Martin Selmayr, ein denkbar schlechtes und auf die Briten negativ wirkendes Beispiel. Geradezu erschreckend unklug, und dies in der kritischen Phase des Deals im britischen Unterhaus, äußerte er sich in einem Interview mit der „Passauer Neuen Presse“ zum Verhandlungsergebnis wie folgt: „Die EU, die anderen 27 Staaten, sind geeint gewesen. Sie haben hart verhandelt und ihre Ziele durchgesetzt.“ Prompt wurde diese Aussage in Großbritannien und im britischen Parlament als Machtanspruch der EU gewertet.

Es muss nachgebessert werden

Doch dies ist nun alles Schnee von gestern. Wichtiger ist jetzt nach der Ablehnung der Brexit-Vereinbarung durch das Unterhaus, die Frage „Was nun“? Gibt es einen harten Brexit und einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU am 29. März 2019 ohne Vertrag oder kehrt auf beiden Seiten noch Vernunft ein? Warum soll ein politischer Vertrag, der, aus welchen Gründen auch immer, in der praktischen Realität im Vereinigten Königreich keine parlamentarische Mehrheit fand und findet, nicht nachgebessert werden können?

Otto von Bismarck sagte einmal „Die Politik ist die Kunst des Möglichen“. Daraus wäre heute zu folgern, dass ein Kompromiss gefunden werden muss. Wenn die Politik dazu nicht fähig, ist, dann beherrscht sie eben die Kunst des Möglichen nicht und versagt. Es muss ein Kompromiss mit den Briten gefunden werden – ansonsten ist der politische und wirtschaftliche Schaden auch auf Seiten der EU viel zu groß.

Wenn man ohne Vorurteile den Entwurf des Brexit-Deals ehrlich und neutral prüft, kann man schon den Eindruck haben, dass die Briten gelinkt werden sollten. Dies lässt sich ganz klar am kritischsten Punkt des Vertragswerkes, am „Backstop“, festmachen. Er soll eine offene Grenze zwischen der auch künftig zur EU gehörenden Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden „Northern Ireland“ garantieren. Dies hört sich zwar edel und gut an, lässt sich aber mit dem Gedanken des Brexit nicht vereinbaren, denn der Backstop würde dazu führen, dass das Vereinigte Königreich souveräne Rechte für ein Teilgebiet abgibt. Dies kann kein souveräner Staat, schon gar nicht ein so selbstbewusster wie Großbritannien, hinnehmen.

Auch für mögliche Übergangsphasen müsste das Vereinigte Königreich nach dem Brexit-Deal weiter das EU-Regelwerk anerkennen – hätte aber kein Stimmrecht bei der EU mehr und sollte sogar in der Übergangszeit weiterhin Mitgliedsbeiträge zahlen. Nun kann natürlich die EU-Seite darauf hinweisen, dass Premierministerin Theresa May das Vertragswerk für die britische Seite verhandelt hat. Dies ist richtig. Richtig ist aber auch, dass auch der EU bekannt war, dass der Vertragstext vom britischen Parlament ratifiziert werden musste. Die britische Regierungschefin hat nach Meinung des Unterhauses einen für ihr Land denkbar schlechten Vertrag zur Abstimmung vorgelegt. Entsprechend war das Abstimmungsergebnis. Die den Tories (die Conservative Party) nahestehende Zeitung „Telegraph“ brachte es auf den Punkt: „Was May nicht verstanden hat, ist die Tatsache, dass man zur Umsetzung des Referendums sich klar für eine Seite entscheiden muss. Ihr Versuch, alle – einschließlich Brüssel – zufriedenzustellen, hat am Ende niemanden zufriedengestellt.“ Was ist jetzt notwendig? Wir haben es oben schon ausgeführt: alle müssen sich jetzt, insbesondere auch die EU, politisch bewegen. Es geht nicht um Gesichtsverlust, es geht vielmehr auch um Vernunft und eine Realpolitik für die Wirtschaft und deren Beschäftigten.

Großbritannien nimmt eine Sonderrolle für Europas Sicherheit ein

Die Ausrede der EU, die Briten hätten klargemacht, was sie nicht wollen, nicht aber was sie wollen, stimmt ja nicht. Das Vereinigte Königreich will – gerade nach dem Brexit – seine Souveränität auch in Teilbereichen nicht aufgeben; es will einen Deal, der die ganz besondere Rolle von United Kingdom – auch hoffentlich nach dem Brexit – als immerhin wichtiger NATO-Partner und somit Verbündeter auch der EU-Länder berücksichtigt. Großbritannien leistet von allen EU-Ländern bzw. NATO-Verbündeten den größten Beitrag für die europäische Sicherheit und für den Erhalt der so oft auch von der Bundeskanzlerin zitierten westlichen „Werte“. Wer hat, sollten sich die USA je von der NATO zurückziehen (angedroht hat dies schließlich schon US-Präsident Trump), die größte europäische Marine und strategische europäische Atom-U-Boot-Flotte mit interkontinentalen Raketen, die auch für die Abschreckung und den Schutz der EU-Länder sorgen? Es ist das Vereinigte Königreich als NATO-Mitglied. Vom militärischen Beitrag der Briten profitierte bisher auch die EU und somit Deutschland. Das wird hierzulande gerne geflissentlich vergessen. Wie wäre es, wenn das Vereinigte Königreich sagen würde, o.k. wenn die EU uns Schwierigkeiten bereiten will und nicht kompromissbereit beim Brexit-Deal ist, dann soll sie auch für ihren militärischen Schutz allein sorgen? Dies wäre eine Katastrophe. Die Briten sind nämlich traditionell nie allein, wenn es wirklich um alles geht, wie die berühmten „Special Relationship“ mit den Vereinigten Staaten zeigen. Da gibt es zwar gelegentlich auch „Familienstreitigkeiten“ – aber am Ende ist man zusammen.

EU – eine großartige Sache, die leider nicht mehr strukturell zusammenpasst

Die Briten – und übrigens mehrheitlich die Bürger in anderen EU-Staaten wie Italien oder Polen – sind ja nicht per se gegen Europa – sie sind vielmehr gegen die derzeitige EU, weil diese sich zu einem immer schwieriger zu steuernden Moloch entwickelte, der selbstherrlich alles vorgibt, wie aktuell die unsinnigen Dieselmesswerte zeigen. Die Sparer, ein weiteres Beispiel, haben dem EU-Anhängsel EZB den Verlust von Zinsen auf ihre Sparguthaben zu „verdanken“. Die EZB ist zwar unabhängig, aber sie ist eine Geburt der EU. Die Briten wollen, dass juristische Auseinandersetzungen vor britischen Gerichten ausgetragen werden und nicht in Luxemburg. Dies sind alles unmögliche Dinge, die zu einer Verärgerung bei den Bürgern und zu einer EU-Verdrossenheit führen. Leider entwickelte sich die EU zu einem Gebilde, das strukturell nicht mehr zusammenpasst. Ein Beispiel dafür ist jetzt Serbien; diese wollen eigentlich als enger Verbündeter von Russland nicht in die EU – sie sind lediglich an den Finanztransfers der EU interessiert. Das ist aus der Sicht der Serben zwar verständlich und legitim, zerstört aber den Charakter der EU, die kein Selbstbedienungsladen sein soll.

Die EU ist von innen heraus gefährdet, keineswegs durch den Austritt von Großbritannien. Dieser war nur die Folge einer immer schwieriger steuerbaren EU. Diese Entwicklungen, die lange vor dem Brexit-Referendum schon 2015 der britische Premier David Cameron in seiner berühmten Europa-Rede im Londoner Chatham-House beklagte, wurden leider nicht gebremst – im Gegenteil. Nicht wenige spielten sogar mit dem Gedanken einer EU-Mitgliedschaft durch die Ukraine. Dagegen ist Griechenland mit seiner Finanzwirtschaft harmlos. Geschehen ist auf der EU-Seite nach der rechtzeitigen Warnung von David Cameron nicht viel!

Ein Exempel

Ganz zweifelsfrei wollte die EU an Großbritannien ein Exempel beim Brexit statuieren. Die Briten sollten „bestraft“ werden. Das kann aber in einer westlichen Wertegesellschaft nie funktionieren. Unmittelbar nach dem Referendum durch das britische Volk wurden alle möglichen Untergangsszenarien für das Vereinigte Königreich – leider auch in vielen Medien – an die Wand gemalt. Aber das Bruttoinlandsprodukt hat sich in UK auch nach dem Brexit-Votum von 2016 weiter positiv entwickelt. Das Vereinigte Königreich stellt nach wie vor die zweitgrößte europäische Volkswirtschaft dar und liegt bei den Auslandsinvestitionen in das Land lt. Ernst & Joung sogar noch vor Deutschland. Auch künftig wird z.B. London die Finanzdrehscheibe mit der asiatischen Welt (Hongkong, Südkorea, Indien) oder den reichen arabischen Öl- und Gasstaaten bleiben. Trotz allem Gerede sind die britischen Großbanken HSBC, Barclays, Lloyds Bank oder Standard Chartered auch nach dem Brexit-Referendum britische Institutionen geblieben.

Man muss klar unterscheiden: Großbritannien ist nicht Griechenland oder Rumänien, sondern eine global einflussreiche Größe und bedeutende wirtschaftliche Macht. Deutschland konkret und die gesamte EU wird und muss deshalb auch künftig mit dem Land Handel treiben. Alles andere wäre selbstmörderisch für die Konjunktur und für die Unternehmen – auf beiden Seiten des Kanals. Die EU wird nicht umhinkommen, insbesondere unter Berücksichtigung der NATO-Rolle der Briten, mit dem Vereinigten Königreich eine auch künftig vernünftige Partnerschaft zu pflegen. Die ersten Heißsporne auf der EU-Seite haben dies auch schon inzwischen erkannt.

Letzte Änderung am Mittwoch, 23 Januar 2019 11:09
Günter Spahn

 Herausgeber und Chefredakteur Zielgruppen-Medien Verlag