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30 Jahre Wiedervereinigung – eine Bilanz

Die Braunkohle verabschiedet sich – mit Noblesse einer vorbildlichen Rekultivierung am Standort Boxberg/Lausitz. Die Braunkohle verabschiedet sich – mit Noblesse einer vorbildlichen Rekultivierung am Standort Boxberg/Lausitz. © LEAG

Soll und Haben

Kaufleute ziehen am Jahresende Bilanz. Was waren die Vorgaben, was wurde erreicht? 30 Jahre nach der Wiedervereinigung stellt die ostdeutsche Bevölkerung – insbesondere eine inzwischen neue Generation, die die „DDR“ nur vom Hörensagen kennt – viele kritische Fragen. Warum bestehen zum Beispiel immer noch so enorme Unterschiede bei der Bezahlung der Menschen in Ost und West? Warum registrieren wir wieder oft eine geistige Trennung in den Köpfen, die doch in der Euphorie der unmittelbaren Überwindung der Teilung unseres Landes überwunden schien?

Viele positive Entwicklungen

Wie sieht die Bilanz in Ostdeutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung aus? Es wurde unglaublich viel erreicht. 108.000 qkm – die Fläche der ehemaligen DDR – wurden erneuert. Aus heruntergekommenen Stadtbildern – etwa in Dresden, Erfurt, Görlitz oder Leipzig (um nur wenige Beispiele zu nennen) – wurden attraktiv restaurierte Städte mit einer hohen Lebensqualität geschaffen. Die katastrophalen DDR-Emissionen wurden enorm reduziert. Aus hässlichen Abbauflächen der Braunkohle wurde im Großraum Leipzig mit dem „Neu-Seenland“ eine attraktive Freizeitlandschaft von Weltrang mit einer enormen Verbesserung der „weichen“ Standortqualitäten geschaffen. Doch es wurden auch unglaubliche Fehler bei der „Abwicklung“ industrieller Strukturen Ostdeutschlands durch die vor 30 Jahren vom „Westen“ beauftragte und gebildete Treuhandanstalt, einer offensichtlich damals überforderten Behörde, begangen. Wer im Jahre der Wiedervereinigung in Ostdeutschland geboren wurde, hat die alte DDR nicht erlebt und beurteilt heute Ostdeutschland nur aus einer Momentaufnahme mit dem Vergleich Ostdeutschlands mit der „alten“ Bundesrepublik. Diese Momentaufnahme kann aus Sicht der heute dreißigjährigen Ostbürger nicht zufriedenstellend sein.

Was sind die Gründe? Nach einer Bundesbank-Studie beträgt der Zentralwert der Nettovermögen pro Haushalt in Ostdeutschland 23.400 Euro, in der „alten“ Bundesrepublik sind es 92.500 Euro. Dies sagt zwar nicht alles, aber bereits sehr viel. Es besteht zusätzlich immer noch ein erhebliches Verdienstgefälle. Die Ostdeutschen verdienen im Mittelwert noch 17% weniger als ihre Arbeitskollegen im Westen. Diese Unausgewogenheit führt zu einer Flucht der Ostdeutschen mit den Füßen. Trotz vieler Jubelarien der Politik, jetzt wieder bei den Feiern 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, nimmt sogar die Unzufriedenheit der ostdeutschen Bevölkerung noch zu. Die jungen, aktiv im Berufsleben stehenden Ostdeutschen sehen in ihrer Heimat keine Zukunft. Betrug die Anzahl der Bevölkerung Ostdeutschlands 1991 immerhin noch 14,5 Millionen, sind es aktuell nur noch knapp 12,5 Millionen. Den jungen Bürgern mangelt es insbesondere in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands an beruflichen Perspektiven. Es bleiben noch die alten Menschen. Ohne Zuwanderung aus dem Westen, zum Beispiel in die zwei attraktiven Großstädte Dresden und Leipzig, in die zahlreiche Großinvestitionen gelenkt wurden, wäre die demografische Entwicklung Ostdeutschlands sogar noch dramatischer. Die Politik – und dies ist die negative Seite der Bilanz – hat nach der Wiedervereinigung viele wirtschafts- und strukturpolitische Fehler begangen. Das immer noch bestehende und erwähnte soziale Gefälle gehört zu den großen Versäumnissen.

Dennoch ist die Wiedervereinigung eine Erfolgsstory, denn strukturpolitische Fehler sind nicht mit dem Gewinn der gewonnenen Freiheit aufzurechnen! Die alte DDR war ein Quasi-Gefängnis mit einer Mauer mitten durch Berlin und einem 1393 Kilometer langen Todesstreifen mitten durch Deutschland. Meinungs- und Reisefreiheiten waren, zumindest in Länder wie Spanien oder Italien, für die damaligen DDR-Bürger Fremdwörter. Wer flüchten wollte, riskierte den Tod. Freie Wahlen waren ein Fremdwort. Sie fanden erstmals im März 1990 statt. Die unblutige friedliche Revolution der DDR-Bürger war kein Zufall, sie war das Ergebnis eines Überwachungsstaates. Dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, zu DDR-Zeiten evangelischer Pfarrer in Rostock, fiel auf die Frage eines Journalisten, was in der DDR gut gewesen sei, nichts ein. Doch da irrt der Ex-Bundespräsident.

Nicht alles war schlecht

Zur Wahrheit gehört auch, dass gerade unter Berücksichtigung fehlender Finanzmittel die DDR etwa im Bereich der Kultur eine höhere Theaterdichte im Vergleich zur alten Bundesrepublik aufwies. Am 1. Oktober 1984 wurde das Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin eröffnet und am 13. Februar 1985 freute sich die Welt über die Wiedereröffnung der im 2. Weltkrieg zerstörten weltberühmten Semperoper in Dresden. Weitere kulturelle Höhepunkte waren in Leipzig bereits in den frühen Nachkriegsjahren der Neubau des riesigen Opernhauses und später die Einweihung des spektakulären „Neuen Gewandhauses“. In Berlin entstand das größte Revuetheater, der Friedrichstadt-Palast. Doch diese punktuellen Großprojekte der DDR – dazu zählen der Fernsehturm am Berliner Alex, der Palast der Republik, der dem Wiederaufbau des Berliner Schlosses weichen musste und in Dresden der Kulturpalast – konnten natürlich das gesamte Erscheinungsbild der ehemaligen DDR mit verfallenen Stadtteilen nicht retuschieren. Aber immerhin, der Wille, die „DDR“ zu entwickeln, war da.

Auch in die Infrastruktur der Wasserversorgung hat die alte DDR enorm viel Geld investiert. Noch immer ist die Rappbode-Talsperre mit der in den Jahren 1952 – 1959 entstandenen höchsten Staumauer, 106 Meter hoch, ein wichtiges Projekt der Trinkwasserversorgung in Sachsen-Anhalt, made in DDR. Zahlreiche Anlagen der Trinkwasserversorgung entstanden zu DDR-Zeiten in Thüringen und Sachsen, dort z.B. mit der Talsperre Eibenstock. In den Jahren 1957 bis 1960 wurde mit einem gewaltigen finanziellen Kraftakt der Überseehafen in Rostock gebaut. Und selbst im industriellen Bereich hatte Ostdeutschland zu DDR-Zeiten unter erschwerten Bedingungen durchaus leistungsfähige Unternehmen wie große Teile Robotron oder den Werkzeugmaschinenbauer „7. Oktober“ hervorgebracht. Einsame Weltklasse waren die Weltrekord-Rennräder bei Olympischen Spielen, entwickelt von der Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte, die FES, die es noch heute gibt. Eine Ausnahmestellung mit Weltruf hatte und hat auch das übrigens auch zu DDR-Zeiten private Hightech-Unternehmen von Ardenne in Dresden. Heute ist die Ardenne GmbH – immer noch voll im Besitz der Familie von Ardenne – mit über 500 Beschäftigten ein weltweit operierendes Unternehmen in den Bereichen der Vakuum-, Plasma- und Elektronenstrahl-Technologie.

Wie geht es weiter?

Ostdeutschland muss vom Image der verlängerten kostengünstigen Werkbank befreit werden. Lohnunterschiede von 17 Prozent sind nicht gerechtfertigt. Neue soziale Brennpunkte können sogar bald entstehen, wenn es der Politik nicht gelingt, für einen Ausgleich der bald verloren gehenden Arbeitsplätze in der Braunkohlenindustrie, insbesondere in der Lausitz, zu sorgen. Nach der Wende entstand in Mitteldeutschland eine hochmoderne saubere Energiewirtschaft (siehe Bild). Jetzt werden gewaltige Investitionen in modernste Kraftwerke aus angeblich klimapolitischen Gründen „verbrannt“, ein unglaublicher Vorgang. Darüber können alle jene, die die wirklich schmutzigen Kraftwerke der DDR noch kannten, nur lächeln.

Auch die ländlichen Räume Ostdeutschlands, etwa die Lausitz, müssen durch den Bund stärker mit steuerpolitischen Anreizen gefördert werden. Ein Beispiel für neue Chancen ist die Wasserstoff-Initiative mit der Förderung von Unternehmen, die in diese Technologie investieren wollen. Ein aktuelles Beispiel, wie man es nicht machen sollte, ist allerdings die aktuelle Nominierung der Stadt Münster zum neuen deutschen Zentrum der Batterienforschung für innovative Antriebe durch die Bundesregierung. Damit soll kein Werturteil gegen den Standort Münster zum Ausdruck kommen. Im Gegenteil, Münster ist ein großartiger Standort und gehört mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 18 Milliarden Euro bereits zu den zwanzig erfolgreichsten deutschen Zentren, während Städte wie Chemnitz, Magdeburg, Halle, Erfurt oder Rostock noch nicht einmal auf ein BIP von 9 Milliarden Euro kommen. Der Bund will das geplante Zentrum Batterienforschung immerhin mit 500 Millionen Euro fördern.

30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es fast immer noch keine Großunternehmen, die ihren Hauptsitz in Ostdeutschland haben. Auch dies ist ein großes Problem. Entscheidungen fallen nicht in Ostdeutschland! Chemnitz und Co hatten leider bei der Wiedervereinigung nicht die Lobby gehabt, wie etwa das rheinische Bonn als ehemalige provisorische Hauptstadt der Bundesrepublik.

Günter Spahn

 Herausgeber und Chefredakteur Zielgruppen-Medien Verlag