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EU wegen Flüchtlingskrise in der Zerreißprobe

Die EU steht u. a. wegen der Flüchtlingskrise vor einer Zerreißprobe. Die EU steht u. a. wegen der Flüchtlingskrise vor einer Zerreißprobe. © Pixabay

Brüssel und Kanzlerin Merkel reduzieren sich zur Drohinstanz

Die Töne werden innerhalb der EU schriller und aggressiver. Selbst Spitzendiplomaten wie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn haben schon jede Noblesse vergessen. Von den nach Brüssel abgeschobenen „Hinterbänklern“ ganz zu schweigen. Asselborn würde liebend gerne die Ungarn aus der EU werfen und greift selbst zum Mittel der persönlichen Beleidigung des dortigen Ministerpräsidenten Victor Orban. So primitiv geht man auf einer politischen Spitzenebene nicht miteinander um! Beleidigungen sind kein Merkmal der vielgepriesenen EU-Werte! Auch die Bundeskanzlerin eckt – dezenter zwar – immer mehr mit Ungarn und Polen an. Die Differenzen, nicht nur mit den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten, sind aber infolge der eigenmächtigen Entscheidung der Kanzlerin, z. B. das Dubliner Abkommen 2015 de facto außer Kraft zu setzen, bereits vor zwei Jahren entstanden.

Damit wurde die Flüchtlingsbewegung über offene Grenzen und die folgende politische Diskussion innerhalb der EU erst richtig befeuert. Weshalb? Weil sich Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei, aus welchen Gründen auch immer, weigerten (Ungarn und Polen weiterhin auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes) Flüchtlinge bzw. Zuwanderer über einen von der Bundeskanzlerin über die EU eingeforderten Verteilungsschlüssel aufzunehmen; Zuwanderer, die außerhalb der Kontrolle Ungarns und Polens liegen. Dies ist ein wesentlicher Punkt. Ungarn und Polen – dies geht in Deutschland völlig unter – sind per se nicht gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Sie wollen aber Herr des Procedere bleiben und bestimmen, wer in ihr Land darf. Polen hat z.B. sehr viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.

Ungarn und Polen pochen auf ihre souveränen Rechte, die auch in der EU keineswegs abgeschafft wurden. Wäre dies nicht mehr der Fall, bräuchten wir ja schließlich jetzt in Deutschland keinen Bundestag zu wählen, dann hätten wir eine Zentralregierung in Brüssel und die Bundesregierung würde sich degradieren und sich nur noch um untergeordnete regionale Fragen kümmern. Dem ist aber ausdrücklich nicht so – aus guten Gründen! Denn es gibt drei Zuständigkeitsbereiche in der EU: ausschließliche der EU, gemischte Zuständigkeiten und drittens Angelegenheiten, die Brüssel nichts angehen.

Schließlich gilt in der EU der Grundsatz der Subsidiarität, demnach eine Kompetenz der EU nur übertragen werden kann, wenn ersichtlich ist, dass diese auf EU-Ebene besser zu lösen ist. Der „Lissabonner EU-Vertrag verstärkt sogar den Subsidiaritätsgedanken und gibt den nationalen Parlamenten ein Einspruchsrecht, wenn sie Kompetenzen verletzt sehen. In Deutschland hat z.B. das Bundesverfassungsgericht im Juni 2009 Zuständigkeiten definiert, die in nationaler Obhut bleiben müssen.

Auch der Europäische Gerichtshof, der jetzt u.a. Ungarn verpflichten will, Flüchtlinge nach dem EU-Verteilungsschlüssel aufzunehmen, ist letztendlich „nur“ eine Institution der EU, die beispielsweise außerhalb der Gemeinschaft keine Kompetenzen hat. Abgesehen davon, dass es überall Fehlurteile gibt, geben z.B. die Polen und Ungarn ihrer Souveränität eine höhere Priorität und fühlen sich insofern an das Urteil einer EU-Instanz, das ihre Souveränität in Frage stellen würde, nicht gebunden.

Die EU ist vom Modell her eine Gemeinschaft von souveränen, gleichberechtigten Staaten. Weder ist die EU ein Einheitsstaat mit einer Zentralregierung noch eine Institution, die souveräne Nationalstaaten ersetzen kann. Dazu fehlt ihr z.B. auch in Deutschland die Zustimmung durch das Volk. So haben etwa die Schweden per Volksabstimmung die Einführung des Euros abgelehnt.

EU in keiner komfortablen Lage

Die EU ist insbesondere nach dem Brexit nicht in der komfortablen Lage, um zum Mittel der Drohungen gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten greifen zu können. Vertragsverletzungsverfahren mit der verbundenen Entziehung der Stimmrechte oder gar Finanzhilfen bei „aufmüpfigen“ EU-Ländern zu streichen, sind das sichere Rezept, um das EU-Gebäude endgültig zum Einsturz zu bringen. Der Brexit, das hat ja auch Österreichs Außenminister Kurz klar gesagt, war z.B. eine Folge der Flüchtlingspolitik.

Wir erleben derzeit substanzielle Gefährdungen in Spanien. Katalonien will sich abspalten. Dies wäre zwar ein bodenloser Unfug – aber es zeigt auch, dass die Menschen gegenüber zentralen Strukturen reserviert sind. Wer heute Ungarn und Polen u.a. mit dem Entzug der finanziellen EU-Zuwendundungen „bestrafen“ will, dem sei eine einfache Wahrheit in Erinnerung gebracht: Beide Länder haben in über 45 Jahren den Stalinismus und die kommunistische Diktatur überwunden; sie würden notfalls auch ohne EU-Mitgliedschaft überleben…

Auch deutsche Medien sehen die Ausgangslage völlig falsch, wenn sie, wie die „Nürnberger Nachrichten“, davon schreiben, dass „immer nur nehmen und nicht geben“ (im Hinblick auf Polen und Ungarn) nicht funktionieren könne. Die Ungarn und Polen haben verdammt viel gegeben, wenn nur an ihren großartigen wagemutigen Einsatz beim Zusammenbruch des alten „Ostblocks“ erinnert werden darf. Ohne deren Mut wäre eine Angela Merkel heute keine Bundeskanzlerin! Schließlich sind die Länder Polen und Ungarn auch Märkte und somit wichtige Kunden – auch für die deutsche Wirtschaft. Allein Deutschland hat an Polen (38 Millionen Konsumenten) Waren im Wert von 54,8 Milliarden Euro geliefert. Es ist also törichtes Gerede, wenn sich die EU auf Nehmen und Geben reduzieren würde. Da wäre übrigens gerade aus der Sicht der Osteuropäer noch so manche Rechnung gegenüber Deutschland offen! Der verstorbene Altkanzler Helmut Kohl hat bewusst die Osteuropäer unter seinen Schutz gestellt.

Das Weltblatt „Neue Zürcher Zeitung“ hat in einem Kommentar unter dem Titel „Die trampelige Mittelmacht“ daran erinnert, dass Deutschland in Europa rücksichtsvoll auftreten müsse, vor allem im Osten.

 

Letzte Änderung am Donnerstag, 14 September 2017 16:11
Günter Spahn

 Herausgeber und Chefredakteur Zielgruppen-Medien Verlag

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